Bye, Bye BMS - Bewerbermanagementsysteme auf dem Rückzug? 3 Thesen zum Bewerbungsprozess
Tatsächlich wirkt das Bild am Markt anders. Alles scheint den heutigen Bewerbermanagementsystemen in die Hände zu spielen. Angefangen mit der DSGVO, deren Umsetzung durch BMS deutlich vereinfacht wird, bis hin zu Investoren, die scheinbar gern in dieses „sichere“ Geschäftsmodell investieren wollen. Die BMS oder wie im englischen Abgekürzt ATS (Application Tracking System) scheinen sich in der aktuellen Lage sehr wohl zu fühlen. Es geht schon fast so weit, dass man sagen könnte, ein bisschen Druck würde dem Segment ganz gut tun, denn dann muss man sich auf einmal doch wieder um die Hausaufgaben kümmern und beispielsweise an der Candidate Experience arbeiten. Auf Grund des dankbaren Marktes existieren ATS allerdings wie Sand am Meer, so dass man nicht von keinem Konkurrenzdruck sprechen könnte. Also ein wenig Druck gibt es schon.
Das soll aber nicht der Grund meines Artikels sein, bei dem es mit um ein Gedankenspiel geht. Immer wenn Google einen entscheidenden Move in unserem Segment unternimmt, lohnt es sich, meiner Meinung nach, zumindest ein Mal drüber nachzudenken. Bei Google for Jobs hätte es sich schon vor zwei Jahren gelohnt, sich darüber Gedanken zu machen, denn seit dem wissen wir von dieser Erweiterung der Suchfunktionalität. Nun hat Google vor einigen Wochen verkündet, dass sie Google Hire abschalten werden. Einen Beitrag gab es hierzu bereits auf der Wollmilchsau, dem ich tatsächlich nicht zustimme. Die Erläuterung scheint logisch, wenn man sich aber einmal auf eine ganzheitliche Recruiting Betrachtung einlässt, winkt eine weitere Erläuterung. Für diese müssen wir allerdings etwas tiefer in den Recruiting Prozess einsteigen.
Google for Jobs und Google Hire - die perfekte Kombination
Aus einer kleinen Perspektive heraus betrachtet, macht ein eigenes ATS für Google hochgradig Sinn. Mit Google for Jobs haben sie begonnen die erste Phase des Kern-Bewerbungsprozesses anzugreifen. Nichts liegt näher, als diesen Prozess konsequent weiter zu verfolgen. Hire und Jobs in einer Kombination hätte ein starker Player am Markt werden können. Das hätte auch für Kandidaten eine erstaunlich gute Experience geben können. Hätte, hätte Fahrradkette - dem ist nun nicht so.
Es läuft einfach nicht?
Die Erklärung der Wollmilchsau mag sehr naheliegend sein, trotzdem wundert es mich, dass Google hier so sang und klanglos verschwindet. Wenn ich an das gesamte Thema nicht glaube, warum lasse ich dann G4J laufen? Natürlich könnte der Aspekt der Machbarkeit eine Rolle spielen. Sprich: „wir bekommen es einfach nicht hin“. Aber auch das halte ich für abwegig. Google hätte die besten Ressourcen in dieses Thema stecken können, ebenso wie auch bei der Google Job API, in der unheimlich viel Know-How steckt. Warum also den ATS Markt verlassen?
ATS sind ein Auslaufmodell?
Wenn ich so darüber nachdenke und ich will hier tatsächlich nur mal meine Gedanken spielen lassen, hat mich dieser Move sehr irritiert. Sieht Google etwas, was ich nicht sehe? Nach längerem Rumdenken, bin ich auf ein paar Hypothesen gestoßen, die ich gern mit euch diskutieren möchte. Seit Einführung von G4J hat sich schon einiges im Recruiting Markt getan. Ungeachtet der Tatsache, dass ich auf immer mehr Plattformen Arbeitgeber bewerten kann, scheinen sich etliche Jobbörsen immer stärker dem Thema Matching zu nähern. Aber nicht nur die klassischen Jobbörsen tun dies auch die StartUps aus diesem Bereich, gehen sehr auf das Thema Matching. Hinzukommen Entwicklungen wie wir sie brand aktuell bei Whatchado sehen, dass eine Orientierungsplattform Jobs anbietet. Wo ich auch hinsehe, es wird Energie und Geld in eine möglichst gute Passung von Stellenanzeige und Bewerbenden gesteckt.
3 Thesen zum Bewerbungsprozess der Zukunft
These 1
Der größte Teil des Auswahlprozesses wird sich auf die Phase vor der bewussten Bewerbungsentscheidung verschieben.
Ein wesentlicher Punkt, wenn man sich die Dokumentation zur Google Job API ansieht, ist der Versuch zu verstehen, was beide Seiten (Kandidaten/ Unternehmen) wollen, um dies dann zu matchen. Wenn mir dies gelingt, verlagere ich das Matching (Neudeutsch für Auswahl in einem Arbeitsmarkt auf Augenhöhe) in die Phase vor der Bewerbungsentscheidung. Gleiches gilt für alle Anbieter, die die Passung von Stellenausschreibungen und Suchenden/ passiv Suchenden verbessern wollen bzw. heute schon verbessern. Je besser die Passung von beiden Seiten vor der Abgabe der Bewerbung, desto weniger Stress bei der Auswahl/ dem Bewerbungsprozess.
These 2
Durch die Verlagerung der Key-Auswahlpunkte vor den Zeitpunkt der Bewerbungsabgabe werden die Auswahlprozesses signifikant schlanker und kürzer. Die KPI Time to Hire kann somit immense verkürzt werden.
Einer der wesentlichen Kritikpunkte an Bewerbungsprozessen aus Candidate Experience Sicht ist die Dauer der Prozesse. Rückmeldungen werden verschleppt, Teilweise müssen Kandidat_innen Monate warten. Hier kommt eine Verkürzung des Prozesses den Kandidat_innen sehr zu pass. Das allein reicht ja leider nicht, um Unternehmen zur Besserung zu bringen. Aber auch Unternehmen haben hier ein enormes Einsparpotential. Zum einen haben wir durch diese Entwicklung immer weniger „nicht-passende“ Bewerbungen. Das wird sich sukzessive bemerkbar machen. Unternehmen, die dies feststellen, werden zunächst Screeningprozesse vereinfachen und perspektivisch weitere Auswahlschritte wegfallen lassen.
These 3
In einer Welt, in der die wesentliche Auswahl vor der Bewerbung/ Abgabe der Unterlage erfolgt, brauchen wir kein System, welches die Schritte der Auswahl monitort.
Wenn wir den Gedankengang konsequent weiter verfolgen, kommen wir zu dem Schluss, dass wesentliche Kernelemente eines Bewerbermanagementsystems obsolet werden. Natürlich haben wir noch etliche Features, die ein BMS mitbringt. Das geht von Videobewerbung über Referral Support bis hin zum Thema Dienstleister-Schnittstelle und Multiposting. Müssen diese Features wirklich in einem BMS/ ATS verankert sein? Die Frage, die ich mir gestellt habe: wie würde ich ein ATS bauen, wenn der Auswahlprozess entfallen würde.
3 Kommentar(e)
Joachim Diercks am 05.11.2019
Natürlich werden BMS ganz sicher nicht aussterben, schon gar nicht kurzfristig. Aber ich finde den hier formulierten Gedanken absolut richtig, dass wir insg. den Blick viel stärker auf die Selbstselektion, bzw. die Auswahlentscheidung VOR der Bewerbung (die Auswahlentscheidung des Kandidaten, überhaupt ein Bewerber zu werden) richten müssen. Ich bin überzeugt davon, dass dies auch zunehmend geschieht und habe das in meinen "Recruiting2030"-Blicken in die Glaskugel als eine der vier langen Linien der Personalgewinnung der Zukunft schon vor Jahren benannt: https://blog.recrutainment.de/2017/04/11/wie-sieht-das-recruiting-2030-aus-blick-in-die-glaskugel-oder-mehr/
Persoblogger Stefan Scheller am 05.11.2019
Hallo Robin,
vielen Dank für Deine gedanklichen Thesen zur sich andeutenden Entwicklung. Da gehe ich mit. Allerdings nicht, was Deine Einschätzung angeht, warum Google sein ATS aus dem Markt zurückzieht.
Wo wir gerade so schön am Spekulieren sind: Ich persönlich glaube, dass Google seinem Kerngeschäft (Sammeln von Daten zum Optimieren der Werbeausspielungen) treu bleibt. Google hat m.E. kein Interesse daran, dass Menschen die passenden Jobs finden. Aber Google möchte an die Daten der Job-Suchenden. Denn wenn ich weiß, was Personen in ihrem Berufsleben getan haben, welche Qualifikationen sie haben und vor allem, was sie verdienen oder verdienen wollen, habe ich nahezu PERFEKTE Voraussetzungen, um passende Werbung einzublenden. Mehr noch: Ich kann sogar bei Kenntnissen über das Einkommen versuchen, ein Preismaximum mit den eigenen Angeboten zu erzielen. Bislang waren hier die Daten aus dem eigenen ATS eine gefundene Quelle für derartige Datenerhebungen. Die DSGVO hat den Zugang zu dieser Datenquelle mit Blick auf eine personalisierte Auswertung sicherlich deutlich erschwert. Und mit dem Going Live von Google for Jobs kommt Google auch so an die Daten.
Warum ich auf so abstruse Gedanken komme? Ganz einfach, weil mir nicht in den Kopf will, warum ausgerechnet die Such- und Ergebnis-Aufbereitungsprofis eine derart schlechte Nutzerexperience mit Google4Jobs anbieten. Meine These: Die Mühe lohnt sich gar nicht, weil die Daten auch mit einer grottigen Experience jetzt an Google fließen. Ziel erfüllt. Aufwand gespart. Andere Prioritäten setzen.
So, jetzt freue ich mich natürlich auf den Gegenbeweis. :)
Viele Grüße
Stefan
Robindro Ullah am 05.11.2019
Hallo Stefan,
dein Argument, was im Grunde in Richtung des geringsten Widerstandes geht, hab ich tatsächlich nicht bedacht. Das würde ich für ein würdiges Alternativ - Szenario gelten lassen :-)
Jo´s Eingang mit "ATS bleiben", würde ich schon aus Prinzip widersprechen :-) Wer glaubt, er würde für immer bleiben, geht als erstes. Aber ich gebe dir Recht, Jo, das ist auf gar keinen Fall eine kurzfristige Entwicklung.
Vielen Dank für eure Inputs!