Kunst trifft auf Führungskräfteentwicklung

Jörg Reckhenrich Künstler

Eine erstaunliche Entdeckung habe ich vor wenigen Wochen gemacht. Durch einen Zufall bin ich über eine sehr interessante und ungewöhnliche Kombination von Kunst und Personalentwicklung gestolpert, die mich ernsthaft aufhorchen ließ und ich mich fragte:
wieso hat denn das bislang noch keiner gemacht.
Dabei geht es vereinfacht gesagt um eine Kunstausstellung die als Top Management Entwicklungsinstrument genutzt wird. Zu der ganz andersartigen Kunstausstellung, um die es hier im Beitrag heute gehen wird, durfte ich einen der Köpfe hinter dem Projekt interviewen. Jörg Reckhenrich, seines Zeichens Künstler, hat das Projekt gemeinsam mit Jörg Ritter, Partner der Personalberatung Egon Zehnder und Professor für Personal- und Organisationsentwicklung an der Quadriga Hochschule, entwickelt und umgesetzt.

Jörg Reckhenrich wurde an der Kunstakademie ausgebildet und ist zudem systemischer Berater. Seit über 10 Jahren ist er Mitglied der Fakultät an verschiedenen internationalen Business Schools, wie dem Zürich Institute of Business Education - Lorange oder Gastdozent am IMD oder der ESMT. In verschiedenen Projekten und Themen, wie Transformational Leadership, arbeitete er in der Vergangenheit eng mit Egon Zehnder zusammen, so dass der Weg zum dem Projekt, das ich heute vorstelle, nicht mehr weit war.

Lieber Jörg,
das ist ja tatsächlich mal eine ganz andersartige Innovation im Bereich der Personalentwicklung. Wie kam es zu diesem Projekt und wie habt ihr das Instrument entwickelt?

Das Projekt entstand aus einer langjährigen und intensiven Zusammenarbeit mit Egon Zehnder zum Thema Transformational Leadership. Aus dieser Konstellation ergab sich der neue Ansatz, Evaluierung von Potenzialdimensionen in der Galerie. Bei Transformational Leadership ging es unter anderem um Komplexität und Orchestrieren von Kreativität, was in gewisser Weise Grundlage für das neue Projekt war. Wir haben uns dann die Frage gestellt, kann man Potentialdimensionen, wie Neugierde oder Einsicht mit Kandidaten, beispielsweise aus familiengeführten Unternehmen, derart vertiefen, dass man erkennt, was Einzelpersonen mit diesen Begrifflichkeiten verbinden. Wir waren neugierig auf die Geschichten, die sich dahinter verbergen, und fragten uns, geht das über den Weg der Kunst?

Mit diesem Impuls ging es also los. Was entstand dann?

Es war eine sehr ungewöhnliche Kombination. Ich komme ja in erster Linie aus dem Bereich von Kunst Reflektion, Wahrnehmung und intensiven Dialoggesprächen, was ich viel für Coaching, Team- und Organisationsentwicklung nutze. Von der Egon Zehnder Seite kam ein ganz neuer Ansatz, die Evaluierung von Potenzialkriterien über einen Fragebogen und natürlich das ganze Interview Know-how. Für meine Begriffe ist es wirklich das allererste Mal, dass es eine so dichte Kombination dieser beiden Bereiche, Kunst und Personalentwicklung, gibt.

In der Umsetzung gestaltete sich dies dann so, dass von Zehnder Seite ein Potentialfragebogen, zusammen mit Harvard und Standford, entwickelt wurde, der das Feld der Potenzialdimensionen weit und sehr grundlegend aufmacht. Für uns diente das dazu, zum einen eine gemeinsame Sprache mit Klienten zu finden, zum anderen eine fundierte Einschätzung zu den 4 Potentialdimensionen geben zu können. Die Frage die wir uns stellten lautete, wie solche Fragebogenergebnisse genauer beleuchtet und vertieft werden können. Aus dieser Fragestellung heraus entstand der Gedanke in der Berliner Galerie, „Galeriegesellschaft“, die ein sehr interessantes künstlerisches Programm und Ausstellungen machen, ein Format zu entwickeln, indem wir entlang von Kunstwerken der Galerie, diese 4 Potentialdimensionen mit den Teilnehmern des Programms vertiefen.

Wie kann man sich den Prozess bzw. dieses Instrument konkret vorstellen?

Der Prozess startet mit dem Potentialfragebogen. Das ist die Grundlage. Dieser wird in einer Vorphase durch die Teilnehmer beantwortet und dann am Kerntag in der Galerie anhand der 4 Potentialdimensionen (Neugierde, Einsicht, Entschlossenheit, Engagement) vertieft. Diese 4 Stationen bestehen aus jeweils 3 Elementen. Das Hauptelement ist eine Auswahl von Kunstwerken. Hier haben wir sehr genau darauf geachtet, wie diese mit dem jeweiligen Begriff zusammenspielen. Wir fragten uns, kann ich über diese Kunstwerke assoziativ und leicht in das Thema einsteigen? Das zweite Element sind Zitate zu dem Thema aus Interviews mit Führungskräften. Beispielsweise mit Fritz Simon, der der intensiv zu systemischer Organisationsentwicklung geforscht hat. Das passt sehr gut zum Format und unterstreicht den systemischen Aspekt. Der dritte Part sind kurze Beschreibungen und genauere Spezifizierungen der Potenzialdimensionen.

Galerie Berlin
Stehen die 4 Potenzialdimension in einem bestimmten Zusammenhang?

Die Reihenfolge der Begriffe ist die Spannung eines kreativen Prozesses bei dem ich etwas Neues in die Welt setzen möchte. Das gilt nicht nur für die Kunst, sondern insbesondere für unternehmerische Fragestellungen.

Neugierde

Erstmal muss ich neugierig sein, um herauszufinden, wo ich mich gerade befinde. Was braucht mein Unternehmen? Für ein Familienunternehmen kann das heißen, wenn ich am Ende eines Produktzykluses stehe und ich, als Manager, den Laden übernehme, dann muss ich extrem hohe Neugierde entwickeln, um etwas Neues zu schaffen. Ich öffne meinen Blick, schaue ganz weit nach außen und frage, was gibt es zu entdecken.

Einsicht

Einsicht ist dann die Phase, in der ich meine Entdeckungen auf den Punkt bringe. Ich trete einen Schritt zurück und schaue mir an, was habe ich kennengelernt und was für Schlüsse ziehe ich daraus? Es beschreibt den Moment, in dem ich auf einmal sage: das könnte es sein und entwickle daraus eine Idee.

Entschlossenheit

Dann kommt aber der Augenblick, wo ich mich wirklich entscheiden muss und sage, das ist es jetzt. Ich setze da jetzt drauf. Ich muss in eine Richtung gehen und schließe damit dann auch andere Dinge aus. Nur dadurch bekommt die Idee Kraft und Richtung.

Engagement

Der vierte Bereich ist Engagement, bei dem die emotionale Qualität integriert wird - mit Leidenschaft will ich meinen Entschluss nach vorne treiben. Mit Leidenschaft für das Produkt, mit Leidenschaft für den Menschen, mit Leidenschaft ganz generell für die Situation. Insofern ist es wie ein dramaturgischer Spannungsbogen, der sich ergibt. In diesem Spannungsbogen spielen diese 4 Begriffe sehr gut zusammen.

Galerie Berlin 2

Wie sieht der Fragebogen aus?

Bei dem Fragebogen handelt es sich um einen Onlinefragebogen. Es sind etwa 100 Fragen, für die man in etwa 20 Minuten zur Beantwortung benötigt. Daran schließt sich eine Auswertung des Fragebogens an, die wir dann an dem Tag in der Galerie als Grundlage für den intensiven Dialog nutzen.

Die Ergebnisse des Fragebogens beinhalten nicht nur die angesprochenen 4 Potentialdimensionen, sondern sind darüber hinaus in Unterdimensionen aufgefächert. Man bekommt dadurch eine gute Beschreibung und Übersicht, z.B. in Bezug auf Feedback einholen, dem Umgang mit komplexen Informationen oder wie man Beziehung zu Mitarbeitern gestaltet.

Der Dialog entlang von Kunstwerken, konzentriert sich auf die Aspekte die für den Kandidaten die höchste Dringlichkeit, bzw. die meiste Energie haben.


Das klingt nach einem weiten Spagat. Wie bekommt man denn die Brücke zwischen der Betrachtung von Kunstwerken und dem Gespräch über Potenzialdimensionen hin?

Das ist eine Erfahrung die wir aus dem Coaching nutzen. Zunächst sucht sich der Klient, ganz intuitiv ein Kunstwerk, beispielsweise aus dem Feld Neugierde aus. Wir haben immer wieder gesehen, wie passend diese Auswahl ist. Dann starten wir mit der Betrachtung des Kunstwerkes, um den Raum aufzumachen. Ab einem bestimmten Punkt drehen wir den Dialog und fragen, was hat dieser Aspekt den sie gerade an dem Kunstwerk beschreiben, mit ihrer Situation zu tun. Das macht es für Klienten leicht in das Feld einzutreten und Schritt für Schritt die Geschichten dahinter zu entdecken. Die Tiefe und Offenheit solcher Dialoge ist manchmal atemberaubend.


Wie würdest du das Gesamtziel des Formates beschreiben?

In Kombination mit der Ausstellung geht es bei den Führungskräften um Positionierung/ Standortbestimmung: wo bin ich und wo steht das Unternehmen. Man denke beispielsweise an eine Übernahmesituation in der Geschäftsleitung und der Nachfolger fragt sich, was braucht das Unternehmen eigentlich, was muss ich mitbringen, mit welcher Energie muss ich mich bewegen, was fehlt möglicherweise und muss entwickelt werden. Abschließend runden wir das Ganze dann mit einer qualitativen Rückmeldungen ab. Wo sind Stärken, wie haben wir die Führungskraft erlebt, aber wo sind auch die Punkte an denen man nochmals arbeiten sollte bzw. vertiefen kann.

Lieber Jörg, vielen vielen Dank für diese spannenden Einblicke in eine Innovation, die den meisten neu sein wird.